Essen und Moral - 100% Ökostrom als Lizenz für moralisch unbeschwerteren Wurst-Genuss

Wenn wir in Deutschland sind, gehe ich immer gerne in den Supermarkt, nicht nur um den Einkaufswagen mit all den Produkten vollzuladen, die ich in Kalifornien vermisse, sondern auch weil mir der Blick in die Regale zeigt, wie es um die Ernährungstrends in Deutschland steht. Als ich vor ein paar Wochen die Kühlregale durchstöberte, ist mir ein neuer Aufdruck aufgefallen. Es war einer von diesen Stempeln, auf denen normalerweise “verbesserte Rezeptur”, “verbesserter Geschmack” oder “jetzt noch besser” steht, dieser hier versprach “Wir produzieren mit 100% Ökostrom”. “Mit 100% Ökostrom produziert” ist das jetzt neben bio der neue, etwas erschwinglichere Weg zum guten Menschen?

Essen und Moral

Lebensmittel sind heute so moralisch aufgeladen wie nie. Sie können bio, saisonal, regional, fair trade, nachhaltig angebaut, umweltfreundlich verpackt, glutenfrei, vegan und jetzt auch mit 100% Ökostrom produziert sein. Falls Sie sich schonmal gefragt haben, warum Smoothies plötzlich unschuldig sein können und mit Heiligenschein und je nach Saison sogar mit Strickmützchen im Kühlregal sitzen, das ist der Grund dafür: je moralisch wertvoller ein Produkt, desto besser!

Welche Lebensmittel wir kaufen und essen, ist zum Ausdruck unserer Werte und Identität geworden. Und unsere moralische Identität ist uns wichtig! Wir wollen uns als moralische, gute Menschen fühlen und auch so wahrgenommen werden.

Punkte für's Moralkonto

Weil uns unsere moralische Identität so wichtig ist, führen wir Buch darüber und haben eine Art internes Moralkonto, das im Hinterkopf immer mitläuft und Bilanz zieht. Je nachdem wie wir uns zuvor verhalten haben, ist unser Moralkonto ausgeglichen, im Minus oder im Plus. Wenn es im Minus ist, sind wir besonders motiviert, es aufzuladen, zum Beispiel indem wir moralisch vertretbare Produkte kaufen, wie Bio-Spinat oder fair trade Kaffee. Wenn unser Moralkonto im Plus ist, gönnen wir uns eher mal was moralisch zweifelhaftes, wie eine Currywurst von der Imbissbude oder eine Schweinshaxe.

Die Rügenwalder Mühle, deren Wurstprodukte den 100% Ökostrom-Aufdruck tragen, scheint das mit dem Moralkonto verstanden zu haben und liefert mit dem Aufdruck gleich noch Punkte für’s Moralkonto zur Wurst dazu. Wenn man bedenkt, dass es oft eine Rechtfertigung - wie ein Preisnachlass, begrenzte Verfügbarkeit oder eine Besonderheit des Produkts -ist, die uns dazu bringt ein Produkt letztendlich zu kaufen, ist das kein dummer Schachzug!

Nüchtern und in Ruhe betrachtet, wundert man sich vielleicht, dass so ein Stempel auf einer Wurstpackung überhaupt eine Wirkung hat, aber im Supermarkt sieht das etwas anders aus: Bis man beim Kühlregal ankommt, hat man meist schon zig Kaufentscheidungen hinter sich, von denen jede etwas von unseren kognitiven Ressourcen und unserer Willenskraft aufbraucht. Wenn man dann noch müde oder hungrig ist oder es eilig hat, beschäftigt man sich nicht länger damit, welche Wurst man jetzt konkret kauft, sondern ist froh, wenn der Preis einigermaßen stimmt und das Fleisch nicht gerade aus Tschernobyl stammt, und wenn dann noch irgendwas mit öko drauf steht, ab in den Einkaufswagen!

 

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Verweise

Foto von Patrick Selin auf Unsplash