Wer hat an der Uhr gedreht? - Warum die Zeit im Advent zu rennen scheint

Und schon ist der zweite Advent! Wie sind wir denn hierher gekommen? Gestern war doch erst der dritte Oktober. Dann ist ja in zwei Wochen schon Weihnachten und wenn ich nochmal kurz blinzle ist schon 2019 und dann Ostern. Die Zeit scheint schneller und schneller zu vergehen und rast an mir vorbei.

Das war doch nicht immer so! Es gab mal eine Zeit, da kam mir der Advent vor wie eine Ewigkeit und nicht wie ein Beschleunigungsstreifen. Was ist also passiert?

Zeitlupe

Wie wär’s mit einem kleinen Experiment zum Einstieg?

Suchen Sie sich eine Uhr mit Sekundenanzeige und schauen Sie für 15 Sekunden darauf.

santa mit uhr

Fertig?


Fünfzehn Sekunden können ganz schön lang sein! Schaut man dem Sekundenzeiger bei seiner Arbeit zu, bewegt er sich ziemlich langsam, und je genauer man ihn anschaut, umso langsamer scheint er zu werden.


Es geht also doch! Ich kann die Zeit langsamer machen!


Wenn es so einfach ist, die Zeit zu verlangsamen, warum machen wir das dann nicht öfter?

Eine Minute kann sich so zwar anfühlen wie eine Ewigkeit, das hilft aber leider nicht mit dem Problem, dass die Tage an uns vorbeifliegen und wir uns am Ende der Woche fragen, wo sie hin ist.  

Direkt wahrzunehmen, wie die Zeit vergeht, und sich zu erinnern, wie man sie verbracht hat, sind nämlich zwei unterschiedliche Dinge. Es gibt zwei Ebenen der Zeitwahrnehmung: die Wahrnehmung direkt im Moment und die Wahrnehmung vergangener Zeit im Rückblick.



Wahrnehmung im Moment

Wir achten meistens besonders dann darauf, wie schnell oder langsam die Zeit vergeht, wenn wir Angst haben, zu spät zu kommen, uns langweilen oder ungeduldig sind und wollen, dass etwas möglichst schnell vorbeigeht. Manchmal achten wir aber auch auf die Zeit, wenn wir gerade etwas besonders Schönes erleben und nicht wollen, dass es vorbeigeht.

Insgesamt bedeutet es aber nichts Gutes, wenn wir die Uhr zu sehr im Blick haben. Wenn die Zeit dagegen wie im Flug vergeht, interpretieren wir das oft so, dass wir so viel Spaß hatten, dass wir gar nicht auf sie geachtet haben.¹



Warten auf Weihnachten?  Das war mal!

Kinder achten im Advent viel stärker darauf, wie die Zeit vergeht, weil sie sich Weihnachten voller Ungeduld herbeisehnen. Die 24 Tage bis Heiligabend kommen ihnen wie eine Ewigkeit vor.

Für uns Erwachsene, die wir im Advent neben dem üblichen Alltagskram noch mit Weihnachtsvorbereitungen und Glühwein trinken beschäftigt sind, bleibt dagegen oft gar keine Zeit für ungeduldige Vorfreude. Die Tage bis Weihnachten sind meist so vollgepackt, dass wir kaum mitbekommen, wie die Zeit vergeht. Wir befinden uns mit unseren Gedanken meist in der Zukunft und planen, was wir alles noch erledigen müssen und wie wir es erledigen. Manchmal sind wir aber auch in der Vergangenheit und ärgern uns, weil wir gestern nicht alles erledigt haben. In der Gegenwart sind wir jedenfalls kaum, was auch ein Grund dafür ist, dass die Zeit unbemerkt an uns vorüberzieht.

Eigentlich wollen wir aber gar nicht, dass die Zeit langsam vergeht. Zumindest wollen wir nicht das Gefühl haben, dass etwas lange dauert. Was wir eigentlich wollen, ist das Gefühl, genug Zeit zu haben und auf eine erlebnisreiche Zeit zurückzublicken, die uns zeigt, dass wir unsere Zeit gut genutzt haben. Und hier kommt die retrospektive Zeitwahrnehmung ins Spiel.



Zeit im Rückblick

In der retrospektiven Zeitwahrnehmung schätzen wir die Dauer von Ereignissen und das Verhältnis zwischen Zeit und Erlebtem im Nachhinein ein. Unser Gedächtnis geht dabei nicht nach Zeiträumen sondern nach Ereignissen. Neuen und besonderen Erlebnissen räumt es viel Platz ein, während es Zeiträume, in denen nichts Neues oder Spannendes passiert, vernachlässigt.

Nicht jede Woche nimmt also gleich viel Platz in unserem Gedächtnis ein. An manche Wochen haben wir sehr viele Erinnerungen und können sie fast vollständig rekonstruieren, während andere Wochen und sogar Jahre völlig aus unserem Gedächtnis verschwunden sind.

Beim Erinnern kommen uns die Zeiträume mit vielen Erinnerungen viel länger vor als die ohne. Diese verzerrte Zeitwahrnehmung erklärt auch, warum wir den Eindruck haben, dass die  Advents- und Weihnachtszeit unserer Kindheit ewig dauerte, während sie im Erwachsenenalter immer kürzer zu werden scheint.

Die Advents- und Weihnachtszeit in der Kindheit steckt voller besonderer und erster Erlebnisse: das erste Mal den Nikolaus treffen, der erste Adventskalender, das Puppenhaus unterm Weihnachtsbaum… Wir haben so viele Erinnerungen an diese frühen Adventswochen, dass sie uns heute besonders lang vorkommen. Wenn ich dagegen versuche, mich an die Weihnachtszeit zwischen meinem 20. und 30. Geburtstag zu erinnern, fällt mir fast nichts ein! Weihnachten muss in dieser Zeit Jahr für Jahr gleich gewesen sein.



The same procedure as every year

Der Advent bleibt trotzdem eine besondere Zeit im Jahr, die wir eigentlich gut erinnern müssten. Allerdings legen wir in dieser Zeit auch viel Wert auf Traditionen. Alles muss so gemacht werden wie immer und jeder Dezember hat so ziemlich das gleiche Programm: Kerze anzünden, Türchen öffnen, Heiligabend zu Oma, am 25. zu den Schwiegereltern und am 26. zu den Eltern. Jedes Jahr das Gleiche und wenig Chancen für neue Erinnerungen. Also erinnern wir uns an nichts und fragen uns, wo die Zeit hin ist.



Was hilft? Auswandern!

Ich hasse das Gefühl, wenn meine Lieblingszeit im Jahr an mir vorbeirauscht, ohne dass ich etwas davon mitnehme. Noch frustrierender ist, dass ich nichts dagegen tun kann.

Das dachte ich zumindest und hatte schon ein bisschen resigniert, da war das Problem auf einmal verschwunden!

Seit vier Jahren ist es weg. Natürlich wünsche ich mir immer noch mehr Zeit im Advent, aber das hilflose Gefühl, dass er einfach so an mir vorüberzieht, ohne dass ich ihn richtig erleben kann, ist weg.

Was vor vier Jahren passiert ist? Wir haben ein Kind bekommen und sind nach Kalifornien gezogen. Seither ist nichts mehr so, wie es vorher war! Traditionen und “so wie es immer war”, gibt es nicht mehr. Das bedeutet aber auch, dass es viele erste Male gibt und damit viele neue Erinnerungen.

Keine Sorge, Sie müssen nicht auswandern oder Ihre Familienkonstellation ändern, wenn Sie mehr von Weihnachten und Advent haben wollen. Es gibt schließlich auch andere Wege, Neues zu erleben und Traditionen aufzubrechen. Sie können es auch zur Tradition machen, jeden Advent, etwas Neues zu erleben! In meiner Familie gibt es beispielsweise die Tradition, jedes Jahr auf einen Weihnachtsmarkt in einer anderen Stadt zu fahren.



Immer schön ehrfürchtig sein!

Neben neuen Erlebnissen hilft auch das Empfinden von Ehrfurcht gegen Zeitrasen. Erleben wir Ehrfurcht, berührt uns etwas und ruft Bewunderung hervor, weil es so viel größer, schöner, komplexer, klüger, liebevoller, geschickter etc. ist als wir selbst und das, was wir kennen und können. Das Empfinden von Ehrfurcht holt unsere Gedanken aus der Zukunft oder der Vergangenheit ins Hier und Jetzt und verankert sie im Moment.

Personen, die Ehrfurcht erleben, haben das Gefühl, genug Zeit zu haben, sind geduldiger und sogar eher bereit, ihre Zeit zu opfern, um anderen zu helfen. Das ist zumindest das Ergebnis einer Reihe von Studien. ²

Ehrfurcht ist allerdings kein Gefühl, dem man oft im Alltag begegnet. Muss ich dazu jetzt extra zum Grand Canyon fahren oder den Papst besuchen?

Nein, Ehrfurcht ist zwar eine große und überwältigende Emotion, sie lässt sich aber leichter erlebbar machen, als man denkt. Die Natur, Musik oder auch ein Film oder Buch können uns ehrfürchtig werden lassen.³ Außerdem passt Ehrfurcht gut in die Advents- und Weihnachtszeit, weil auch religiöse Erfahrungen Ehrfurcht hervorrufen. Überlegen Sie mal, was Sie ehrfürchtig werden lässt.



Wer hat also an der Uhr gedreht?

Wir waren es wohl selbst! Das Gute daran ist, dass wir damit auch selbst dafür sorgen können, dass sich die Zeiger der Uhr etwas langsamer drehen und zwar sowohl direkt im Moment als auch in der Erinnerung. Damit Sie nicht vergessen, wie das geht, hier nochmal die drei Tipps in Kurzform:

  1. Versuchen Sie mehr im Hier und Jetzt zu leben, damit Sie die Gegenwart auch mitbekommen. Achten Sie einfach mal darauf, wie oft sich Ihre Gedanken in der Zukunft oder der Vergangenheit befinden.

  2. Überlegen Sie sich, wann und wie Sie Ehrfurcht erleben. Vor Weihnachten finden sich bestimmt noch ein paar Gelegenheiten, zum Beispiel bei einem Adventskonzert oder einem Kino-Abend.

  3. Brechen Sie Ihre Advents- und Weihnachtsroutine auf und schaffen Sie neue Erlebnisse, damit Ihr Gedächtnis etwas hat, das es behalten kann und das Album Ihrer Weihnachts-Erinnerungen ein paar neue Seiten bekommt und für 2018 nicht nur ein Satz dazukommt: Genauso wie letztes Jahr.



Eine schöne zweite Adventswoche!



Verweise


[3] Es geht sogar noch einfacher: in den Ehrfurchts-Studien reichten ein Werbeclip, das Wiedererleben einer Erinnerung und eine kurze Geschichte, um Ehrfurcht zu wecken.

 

Beitragsfoto von Fredrik Öhlander auf Unsplash

Santa-Foto von Anderson W Rangel auf Unsplash