Warum wir uns beim Autofahren in Unmenschen verwandeln - Wie im Straßenverkehr die Menschlichkeit verloren geht

Von Dr. Jekyll zu Ms Hyde

Eigentlich bin ich ein ziemlich ausgeglichener Mensch. Ich fluche kaum und werde selten laut. Das ändert sich aber, sobald ich mich ans Steuer meines Autos setze und den Motor starte. Dann kommt plötzlich das Schlimmste in mir zum Vorschein. Ich begegne anderen Menschen nicht mehr mit der Freundlichkeit und Offenheit, auf die ich sonst so viel Wert lege, sondern schreie sie an, fluche hemmungslos oder stelle mir vor, wie ihr Auto, mit dem sie gerade so langsam vor mir herschleichen, explodiert.

Da ich sonst keinerlei Anzeichen für eine Persönlichkeitsstörung bei mir sehe, bin ich mir ziemlich sicher, dass es an der Situation, also am Autofahren, liegen muss, dass ich mich in ein rücksichtsloses Monster mit Gewaltfantasien verwandle. In seinem Buch “Traffic - why we drive the way we do” ¹ erklärt Tom Vanderbilt, wie es zu dieser Verwandlung vom Menschen zum Unmenschen kommt, wenn wir uns hinters Steuer setzen.




Vom Menschen zum Unmenschen

Tatsächlich fällt es uns hinterm Steuer schwer, menschlich zu bleiben und uns wie kooperative, freundliche Wesen zu verhalten. Das liegt daran, dass im Straßenverkehr alles wegfällt, was menschliche Kommunikation und Interaktionen ausmacht. Dass wir beim Fahren zum Unmenschen werden, lässt sich auf drei Gründe zurückführen:

  1. Fehlender Blickkontakt: Wir können einander kaum sehen und uns schon gar nicht in die Augen schauen.

  2. Eingeschränkte Kommunikation: Wir hören einander nicht und können nicht miteinander sprechen.

  3. Anonymität: Wir geben unsere Identität ans Auto ab, das gibt uns dafür Anonymität



Wie sich diese drei Punkte genau auf unser Verhalten auswirken, kommt jetzt:



1.Blickkontakt

Eigentlich sind wir Menschen ziemlich kooperativ, zumindest wesentlich kooperativer als unsere nächsten Verwandten bei den Primaten. Eine der Hauptvoraussetzungen für diese Kooperationsbereitschaft ist Blickkontakt. ² Aber genau dieser geht bei einer Geschwindigkeit von 30kmh verloren. Fahren wir schneller als 30 kmh können wir den anderen Verkehrsteilnehmenden nicht mehr in die Augen sehen und sind entsprechend weniger bereit, uns ihnen gegenüber kooperativ zu verhalten.




2. Eingeschränkte Kommunikation

Oft genug verstehe ich nicht, was das Auto vor oder neben mir macht. Warum fährt es so langsam? Warum blockiert es mich und lässt mich nicht die Spur wechseln? Und dann frage ich natürlich nach: He, du, kannst du nicht ein bisschen schneller fahren? Siehst du nicht, dass ich da rüber will?




Stumm geschaltet

Hilft natürlich nicht, denn die Person im anderen Auto hört mich nicht. Ich kann fragen, auffordern und schimpfen so laut ich will, aber es bringt nichts. Meine Worte schaffen es nicht aus meinem Auto raus durch den Motorenlärm ins andere Auto. Ich bin auf stumm geschaltet, und das ist wahnsinnig frustrierend!

Wenn uns jemand die Vorfahrt nimmt oder sonst irgendwie unfair behandelt, sind wir wütend und wollen uns der anderen Person mitteilen und ihr klarmachen, dass es so nicht geht und dass sie sich gefälligst an die Regeln zu halten hat. Dummerweise ist es im Straßenverkehr verdammt schwer, so eine Botschaft zu vermitteln. Meistens ist der Täter oder die Täterin schon ein paar hundert Meter weiter und hat vielleicht noch nicht mal was von seiner oder ihrer Missetat mitbekommen. Wir können noch hupen oder den Mittelfinger zeigen, aber wirklich befriedigend ist das nicht, wenn der Täter oder die Täterin nichts davon mitbekommt.

Und so regen wir uns weiter auf und konstruieren ganze Dramen, in denen wir das arme, unschuldige Opfer sind, dessen friedliebender Golf von einem rücksichtslosen Porsche geschnitten und fast aus der Spur gedrängt wurde. Oft ist der Zwischenfall noch präsent, nachdem wir am Ziel angekommen sind.




Eskalationspotential

Während im Verkehr schon kleine Zwischenfälle in Fluch- und Schimpftiraden eskalieren, reicht bei normalen Begegnungen oft ein Blick oder ein Lächeln um die Situation zu entschärfen und den Ärger über eine andere Person verpuffen zu lassen.

Diese subtileren und direkten Möglichkeiten mit unseren Mitmenschen zu kommunizieren und Missverständnisse zu klären, fallen beim Autofahren dummerweise weg. So regen wir uns viel schneller über Kleinigkeiten auf. Gleichzeitig ist unser Kommunikationsrepertoire beschränkt auf gröbere, unspezifische Mittel wie Hupen, beleidigende Gesten oder aggressives Fahrverhalten, sodass auch unsere Antwort stärker negativ ausfällt. Beim Fahren gibt es also schon für die geringsten Anlässe großes Eskalationspotential!




Alles Ärsche!

Was die ohnehin schon sehr eingeschränkte Kommunikation beim Fahren noch weiter erschwert, ist, dass man meist hintereinander herfährt. Man sieht keine Gesichter, sondern starrt stattdessen die meiste Zeit auf die Hinterteile der anderen Autos. Hinter jemand anderem zu sein und nur dessen Rückseite zu sehen, ist eine Position, die kulturell mit Unterordnung verbunden wird. Man wird also zusätzlich zu alledem in eine demütigende Position gebracht. Kein Wunder, dass es da mit Höflichkeit und Kooperationsbereitschaft nicht weit her ist.




3. Anonymität

Dass wir die anderen Verkehrsteilnehmenden weder richtig sehen noch hören können, sorgt beim Autofahren oft genug für Frustration und Unverständnis. Gleichzeitig wissen wir aber, dass die anderen uns genauso wenig sehen oder hören können, und das genießen wir auch. Das Auto umgibt uns mit einer ziemlich schalldichten Hülle, in der wir unsere eigene Temperatur und Musik einstellen können. Wie ein Kokon aus Blech und Glas schirmt es uns von der Umwelt ab, versteckt uns und gibt uns Anonymität. Also drehen wir die Musik auf, singen laut bei unseren Lieblingssongs mit oder bohren ungeniert in der Nase.

Der Nachteil an diesem Gefühl der Anonymität ist allerdings, dass es Aggression und rücksichtsloses Verhalten fördern kann. “Ach, in dieser Spielstraße kann ich ruhig ein bisschen schneller fahren. Es kennt mich ja niemand.” Wenn niemand weiß, wer man ist, besteht wenig Anreiz für Freundlichkeit und Rücksichtnahme. Anonymität enthemmt, nicht nur zum Singen, sondern auch zu Rücksichtslosigkeit und grobem Verhalten, das wir uns sonst nicht erlauben würden.

Inwiefern die enthemmende Wirkung der Anonymität beim Fahren eine Rolle spielt, zeigt eine Studie, die untersuchte, ob sich Cabriofahrer und -fahrerinnen anders verhalten, wenn sie ihr Verdeck offen haben und deutlich zu sehen sind, als wenn sie es zu haben und sich darunter verstecken können. ³

An einer Ampel positionierten Patricia Ellison und ihre Kollegen ein Auto vor einem Cabrio. In diesem Auto saß ein Verbündeter, der angewiesen wurde, für 12 Sekunden nicht zu reagieren, wenn die Ampel auf grün schaltete. Während dieser 12 Sekunden erfasste der Verbündete, ob die Person im Cabrio hupte, wie lange sie hupte und wie lange es dauerte, bis sie hupte. Personen in Cabrios mit offenem Verdeck hupten seltener, später und kürzer als Personen in der Anonymität des geschlossenen Verdecks.




Vom Auto geschluckt - Die verlorene Identität

Das Auto verleiht uns Anonymität, aber im Auto zu sitzen bedeutet gleichzeitig, dass wir unsere menschliche Identität ans Auto abgeben. Wer wir sind, wird plötzlich auf unser Auto, dessen Marke und das Kennzeichen reduziert. Aus diesem Grund achten wir aber auch besonders stark auf diese äußeren Attribute und Auffälligkeiten wie Aufkleber oder besondere Kennzeichen entdecken wir schnell.

Kennen Sie diese seltsame, etwas absurde Freude darüber, ein Auto mit dem Kennzeichen des eigenen Wohnortes zu sehen, wenn Sie gerade irgendwo anders unterwegs sind? Oder ein Auto zu sehen, das genau aussieht, wie das eigene?

Foto von Raivis Razgals auf Unsplash

Ich freue mich zum Beispiel  jedes Mal, wenn ich in Deutschland einen Toyota Prius sehe. Unser Auto und das am häufigsten gefahrene Fahrzeug zwischen San Francisco und LA, in Deutschland aber recht selten. 4 Durch die Gemeinsamkeit mit dem anderen Auto, egal wie oberflächlich und unbedeutend sie ist, wird in der anonymen Masse eine Art Vertrautheit hergestellt.




Jeder Popel fährt nen Opel

Es kann aber auch genau umgekehrt sein, dass ein bestimmtes Auto statt Freude eher Genervtheit oder unheilvolle Vorahnungen auslöst. Viele Deutsche stöhnen innerlich, wenn sie ein holländisches Auto sehen, weil sie der Meinung sind dass Leute aus Holland nicht Auto fahren könnten. New Yorker und New Yorkerinnen regen sich über Fahrzeuge aus New Jersey auf und Griechen und Griechinnen schimpfen über albanische Fahrzeuge.




Stereotype und Vorurteile

Stereotype und Vorurteile scheinen unsere Erwartungen und unser Verhalten besonders stark zu beeinflussen, wenn wir hinterm Steuer sitzen. Das hören wir nicht gerne, weil wir uns ungern von Vorurteilen und Stereotypen leiten lassen. Beim Autofahren bleibt uns aber oft gar nichts anderes übrig, da wir weder die Zeit noch die kognitive Kapazität haben, die Situationen und die Personen, die uns begegnen, eingehend zu analysieren. Beim Fahren navigieren wir durch komplexe Umgebungen, die sich ständig verändern. Wir müssen schnell reagieren und innerhalb von Sekunden Entscheidungen treffen.

Im Laufe der Zeit bildet jeder Fahrer und jede Fahrerin aus den unzähligen verschiedenen Verkehrs-Situationen, die er oder sie erlebt, ein Set an Überzeugungen, Erwartungen und Strategien darüber, wie Verkehr funktioniert. In diesem Set befinden sich nicht nur mentale Modelle darüber, wie bestimmte Situationen verlaufen, sondern auch Stereotype wie sich bestimmte Verkehrsteilnehmende und die Fahrer und Fahrerinnen bestimmter Autos verhalten. Wenn wir dann schnell eine neue Verkehrs-Situation begreifen müssen, greifen wir auf diese mentalen Modelle und Stereotypen zurück.

Dazu kommt, dass wir meist nur sehr wenige Informationen zur Verfügung haben, wenn es darum geht, das Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmenden vorauszusehen: Wir sehen nur das Äußere des Fahrzeugs und erkennen vielleicht noch das Geschlecht der Person auf dem Fahrersitz. Da bleibt uns meist nichts anderes übrig als uns von den Stereotypen und Vorurteilen in unserem Kopf leiten zu lassen.



Unmensch am Steuer

Es ist also gar nicht so erstaunlich, dass wir uns anders verhalten, wenn wir am Steuer eines Autos sitzen. Das Auto nimmt weg, was uns menschlich macht: Sobald wir einsteigen, geben wir unsere Identität ans Auto ab. Wir verlieren die Möglichkeit, Blickkontakt aufzubauen, und müssen auf Sprache verzichten. Wir sehen nur noch Autos und vergessen, dass in ihnen auch Menschen sitzen. Im Straßenverkehr sind wir uns nicht mehr dessen bewusst, dass wir mit Menschen interagieren und können gleichzeitig selbst nicht mehr wie Menschen interagieren, also werden wir in unserem Verhalten unmenschlicher.


Gerade wenn wir mal wieder über die anderen Autofahrer und -fahrerinnen schimpfen oder uns mitten in einem Drama befinden, in dem dem eigenen Auto kaltblütig und rücksichtslos die Vorfahrt genommen wurde, kann es helfen, sich dieser Entmenschlichung im Verkehr bewusst zu werden.

Wir regen uns beim Fahren schnell übermäßig auf, weil wir nur die Autos sehen und nicht den Menschen darin. So unterstellen wir der Person am Steuer schnell das schlimmste und gehen gleich davon aus, dass sie uns schaden wollte. An andere Erklärungen denken wir erst gar nicht und auf die Idee, dass die Person im anderen Fahrzeug wahrscheinlich genauso nett und freundlich ist, wie wir selbst, kommen wir auch nicht. Wenn Sie also mal wieder auf der Autobahn vor sich hinfluchen oder von Gewaltphantasien gepackt werden, erinnern Sie sich daran, im anderen Auto sitzt auch nur ein Mensch!




Verweise

[1] Vanderbilt, T. (2008). Traffic: Why we drive the way we do (and what is says about us). New York, NY: Vintage.

[2] Tomasello, M., Hare, B., Lehmann, H., & Call, J. (2007). Reliance on head versus eyes in the gaze following of great apes and human infants: the cooperative eye hypothesis. Journal of Human Evolution, 52(3), 314-320.

[3] Ellison, P. A., Govern, J. M., Petri, H. L., & Figler, M. H. (1995). Anonymity and aggressive driving behavior: A field study. Journal of Social Behavior & Personality, 10(1), 265-272.
Der Unterschied im Hupverhalten zwischen offenem vs. geschlossenem Verdeck war allerdings nur signifikant, wenn Häufigkeit des Hupens, die Zeit bis zum Hupen und die Dauer des Hupens gleichzeitig in die Analyse eingingen (MANOVA).

[4] Der silberne Prius, wie wir einen haben, kommt in Kalifornien so häufig vor, dass es im Film “La La Land” sogar eine Anspielung darauf gibt: Als die Hauptfigur Mia (Emma Stone) eine Party verlässt und nach Hause fahren will, dauert es eine Weile bis sie ihren silbernen Prius unter den tausend anderen silbernen Prius (ich weiß nicht, was der Plural von Prius ist. Prius, Prii, Priusse?) der anderen Partygäste findet.

Beitragsbild von Jose Carbajal auf Unsplash