Psychophilie

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Was wirklich schlecht ist an Selbstoptimierung - meine beiden Kritikpunkte und Gegenmaßnahmen

Über Selbstoptimierung gibt es ja einiges zu meckern: Sie mache egoistisch und effizienzgeil, sei oberflächlich und geistlos, Pflicht und Stressfaktor und lasse die zurück, die nicht mithalten können, sind die Lieblingsargumente der Kritiker (mehr dazu hier). Ich muss allerdings zugeben, dass ich die meisten Punkte für hinfällig halte. Sie machen zwar auf den ersten Blick Sinn, aber wenn man weiter darüber nachdenkt, wird klar, dass sie nicht so dramatisch sind oder gar nicht zutreffen (mehr dazu später). Es gibt aber zwei Entwicklungen, die mit dem Selbstoptimierungstrend einhergehen, die ich für wirklich bedenklich halte: die wahrgenommene Selbstoptimierungspflicht als Rechtfertigungsgrundlage zur Abwertung von Menschen und die Allgegenwärtigkeit von Selbstoptimierung.

Wer nicht mitmacht, wird abgewertet

Selbstoptimierung ist mittlerweile so weit verbreitet und so selbstverständlich, dass oft der Eindruck entsteht, sie sei zur Pflicht geworden. Schon von klein auf lernen wir, dass wer heute wahrgenommen werden und Erfolg haben will, an sich arbeiten muss und das lebenslang, anders geht’s nicht. Gut, das war schon immer so, aber beschleunigt und auf eine neue Ebene gehoben wurde die Entwicklung durch den technischen Fortschritt. Dank Hosentaschen-Internet und Apps haben wir alle Ressourcen, die wir brauchen, um uns zu verbessern und unseren Fortschritt zu überwachen, ständig verfügbar. Ausreden gibt’s keine mehr. Natürlich ist das nicht nur schlecht, das Schlimme daran ist aber, dass oft unbewusst und automatisch der Umkehrschluss betrieben wird: Wir haben alle Möglichkeiten, die wir brauchen, um besser zu werden. Wenn jemand also nicht gut genug ist, muss das daran liegen, dass er diese Möglichkeiten nicht nutzt. Jeder ist damit selbst für seine Unzulänglichkeit verantwortlich und für das, was er erreicht und nicht erreicht. Die wahrgenommene Selbstoptimierungspflicht wird so zur Rechtfertigungsgrundlage, andere abzuwerten und sie ihrem Schicksal zu überlassen, statt sie zu unterstützen oder einfach so zu akzeptieren, wie sie sind. Gut Abwertung gab es auch schon vor der Selbstoptimierungswelle. Das Schlimme daran ist, dass so eine ganze Reihe trivialer Abwertungsgründe eingeführt wird: Ich ernähre mich gesünder als du! Ich bin glutenfrei und du nicht! Ich stehe früher auf und schlafe besser als du!...Verschärft und weiter gerechtfertigt wird dieser Abwertungstrend  durch die Moralisierung vor allem von gesundheitsförderlichem Verhalten (vegan = moralisch besser, gesund = moralisch besser, fitter = gesünder = moralisch besser), die zurzeit stattfindet.

Sprüche wie “Ich ernähre mich besser als du” klingen albern, weit hergeholt und nach Grundschule? Ja, wenn man das hier so liest, ist es für die Vernunft schwer nachvollziehbar, dass das tatsächlich passiert. Tut es aber: Vor ein paar Wochen hat meine deutsche Lieblingsbloggerin Corinne Luca darüber geschrieben, dass sie nicht mehr über Diäten schreiben und auch keine mehr machen wird. ¹ Als Reaktion auf ihren Text wurde sie in Emails und Kommentaren als fettes, faules Schwein, willensschwach, und der Fressfaulheit erlegen beschimpft. So viel zu trivialen Gründen, Menschen abzuwerten und sogar anzugreifen! ²

Es gibt kein Entkommen: Selbstoptimierung ist überall

Das zweite Problem, das ich sehe, liegt in der Allgegenwärtigkeit von Selbstoptimierung. In letzter Zeit habe ich das Gefühl, dass eine Überstimulation durch Selbstoptimierungsinhalte eingetreten ist, und das liegt nicht nur daran, dass ich mich seit Monaten mit dem Thema auseinandersetze. Aufrufe zur Selbstoptimierung lauern plötzlich überall und man kann sich ihnen kaum entziehen. Bei Facebook, auf Pinterest, im Fernsehen, in Zeitschriften, überall werden uns wohlwollende Tipps gegeben: “Neun von zehn Eltern machen diese Fehler, Sie auch?”, “Nur 10 Minuten Meditation am Tag können ihr Immunsystem boosten! Fangen Sie heute damit an!”, “Immer noch allein? Trainieren Sie ihre Körpersprache für mehr Erfolg beim nächsten Date”...   Ganz unbemerkt ist das Optimierungsstreben in alle Lebensbereiche eingedrungen. Alles, was man tut, könnte man plötzlich verbessern. Was vorher als Alltagshandlung und Gegebenheit des Lebens angesehen wurde, steht plötzlich auf dem Prüfstand. Es geht nicht mehr nur darum, Produktivität, Zeitmanagement und Haushaltsorganisation zu optimieren, sondern auch Entspannung, Schlaf und Beziehungen (siehe Selbstoptimierung 2.0). Überall gibt es plötzlich Erfolg und Misserfolg, sogar beim Schlafen, Essen und Aufstehen. Ständig wird man mit seinen Unzulänglichkeiten konfrontiert oder bekommt sogar Problemzonen aufgezeigt, die man vorher nicht hatte. Mir reicht schon eine 10-minütige Pinterestsession und ich habe 10 neue Problembereiche, um die ich mich kümmern könnte. Wenn das nicht zu Stress und Überforderung führt, was dann?  

Ich bleib so scheiße, wie ich bin

Dieser ganze Verbesserungsdruck führt bei mir dazu, dass ich mich in eine von zwei Ecken gedrängt fühle: entweder ich fühle mich gestresst, weil ich so vieles verändern will und sowieso schon so viel zu tun hab, dass ich gar nicht mehr weiß, was ich machen und wo ich ich anfangen soll, oder ich hab keinen Bock mehr, hol mir ein Stück Schokolade und ein Glas Rotwein, schmeiß Netflix an und beschließe erstmal so zu bleiben, wie ich bin. Wenn ich mich so bei den Amazon-Bestsellern umschaue und Titel lese wie: “Werde, der du sein willst”,  “Entfalte dein Potenzial” oder “Ich bleib so scheiße wie ich bin” und “Du sollst nicht funktionieren”, dann hab ich das Gefühl, dass ich nicht die Einzige bin, die zwischen Verbesserungsdrang und -verweigerung hin und her oszilliert. Das Schlimmste daran ist, dass dieses Hin und Her lähmt und beides nicht richtig funktioniert: Verbessern und Ausruhen. Die Überflutung mit Aufrufen zur Selbstoptimierung führt uns nicht nur ständig unsere Unzulänglichkeiten vor, sie verhindert sogar, dass eine Entwicklung und Verbesserung geschehen kann, weil sie uns überfordert und zu blindem Aktionismus oder völliger Verweigerung verführt.

Und jetzt? Selbstoptimierung einfach gleich sein lassen?

Erstmal durchatmen, innehalten und nachdenken. Nein, besser zuerst den Artikel fertiglesen, denn Bewusstseinsbildung ist hier schon die halbe Miete! Der erste Schritt ist, sich bewusst zu machen, was hier passiert und was es mit uns macht. Die folgenden vier Punkte sind eine Art Impfstoff für’s Denken, sie helfen, indem sie Denkmuster bewusst machen. Kennt man die Denkmuster, kann man dagegen andenken und es fällt leichter, sie abzustreifen, offener zu sein und auch mal andere Perspektiven einzunehmen.

  1. Selbstoptimierung ist keine Pflicht, auch wenn uns ständig suggeriert wird, sie wäre es.

  2. Ob wir mitmachen oder nicht, ist unsere Entscheidung, auch wenn wir uns dessen oft nicht bewusst sind.

  3. Die allgegenwärtigen Aufforderungen zur Selbstoptimierung setzen uns unter Druck, weil sie uns ständig Problemzonen und Verbesserungsmöglichkeiten aufzeigen. Sich dieser Aufrufe bewusst zu sein, sie zu erwarten und bewusst zu ignorieren und sich stattdessen auf das zu fokussieren, was man wirklich verbessern will, hilft.

  4. Wir neigen dazu, Menschen abzuwerten, die nicht unseren Idealen entsprechen. Diese Abwertungstendenz ist natürlich und entspricht der Grundeinstellung, weil sie uns das Leben leichter macht, indem sie uns den Eindruck vermittelt, dass es begreifbar und vorhersagbar ist. Misserfolge, Schicksalsschläge, eigentlich alles Negative ist leichter zu ertragen und zu verstehen, wenn wir der betroffenen Person zumindest einen Teil der Verantwortung daran geben, denn sonst würde das ja bedeuten, dass wir den zufälligen und unvorhersehbaren Launen des Lebens völlig ausgeliefert sind.

Das war meine Selbstoptimierungskritik inklusive Gegenmaßnahmen. Frohes Gegendenken!

 

Verweise

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